Geschichte des Karate

Wenn man versucht, die Geschichte der Kampfkünste und des Karate darzustellen, stellt man sehr schnell fest, daß dies wegen sehr vieler Widersprüche fast unmöglich ist. Die Unstimmigkeiten sind hauptsächlich auf fehlende verlässliche Informationen zurückzuführen.

Kara - Leer
Te - Hand
Do - Weg

Karate-Do als japanische Kampfkunst selbst bedeutet "Weg der leeren Hand". Allerdings ist Japan nur der letzte Teil der langen Geschichte, welche in Indien und Vorderasien vor sehr langer Zeit begann. Der Großteil des Wissens, der Philosopie und der Techniken stammen aus China.

Ein buddhistischer Wanderpriester namens Bodhidharma kam auf seinen Reisen von Indien aus im 6. Jahrhundert nach China. Bodhidharma war auch ein guter Kämpfer. In China lehrte er Zen-Buddhismus und seine Kampfkünste in einem Kloster, das auf chinesisch Shao-lin und auf japanisch Shorin genannt wird. Außerdem bereicherte Bodhidharma diese Kampkünste um Meditationsübungen aus dem Yoga.

Zunächst wurden diese Künste von Bodhidharmas Schülern innerhalb Chinas verbreitet, wodurch sich viele andere Stile entwickelten. Diese Stile werden gemeinhin als Kung Fu (japanisch Kempo) bezeichnet.

Nach Okinawa, einer Insel südlich von Japan und unweit der chinesischen Küste, durch seine geographische Lage, genau zwischen dem chinesischen Kontinent und Japan gelegen, kamen 36 vornehme, vom chinesischen Hof entsendete Familien, unter denen auch mehrere Meister der Kampfkünste waren. Genauso reisten auch viele Einwohner Okinawas nach China, und kamen so mit verschiedenen Meistern in Kontakt. Die Kampfkünste vermischten sich zwangsläufig.

Im Jahre 1429 wurde auf Okinawa der Besitz von Waffen auf einen Befehl des damaligen Königs verboten. Demzufolge waren die Menschen dieser Zeit gezwungen, eine waffenlose Kampfkunst zu entwickeln, da man sich ja gegen Räuber und Besatzer zur Wehr setzen mußte. Die Verwendung von bäuerlichen Geräten als Waffen (Kobudo) sowie der Unterricht dieser Künste wurden im Geheimen geübt und wie in China erziehlte man vor allem in Klöstern beachtliche Erfolge im Kampf gegen bewaffnete Gegner. Durch diese Geheimniskrämerei wurden natürlich keine schriftliche Aufzeichnungen überliefert. Geschichtliche Fakten bezüglich der Entwicklung zur Kampfkunst "Karate" beginnen mit Sakugawa auf Okinawa, der von 1733 bis 1815 in Shuri lebte und die Kampfkunst To-de lehrte, die er in China kennengelernt hatte. "Te", was einfach nur "Hand" bedeutete und wurde dann später nach und nach "Tode" bezeichnet. "To" war die Bezeichnung für die chinesische Tang-Dynastie (628-907) bzw. für China selbst. "De" bedeutet soviel wie "Technik". Zusammengenommen ist Tode also "die Technik, welche aus China kommt".

1761 traf Kushanku auf Okinawa ein und wurde der Lehrer von Shugo Sakugawa. Die beiden legten den Grundstein für die heute am meisten verbreitetste Karateform: Das Shotokan. Auf Kushanko geht zum Beispiel die Kata Kanku-Dai zurück, welche in vielen verschiedenen Karatestilen, wenn auch unter unterschiedlichen Namen, vorkommt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden auf Okinawa verschiedene unterschiedliche Interpretationen des Karate, da jeder Meister die Lehren seiner Vorgänger etwas anders interpretierte.

Die Meister kannten sich untereinander, da ja Okinawa ein kleine Insel ist. In Folge dessen vermischten sich diese unterschiedlichen Varianten immer wieder, da die Meister sich trotz Verbots der Kampfkünste untereinander austauschten.

Die einzelnen Grundrichtungen wurden anhand der Gegenden, in der sie geübt wurden, eingeordnet. So entstanden die Begriffe Shuri-Te und das Tomari-Te, sowie im 19. Jahrhundert das Naha-Te. Naha-Te shuf Kanryu Higashionna, auch genannt "Der Heilige des Faustschlages", aus den Lehren des Chinesen Waichinzan. Dessen Schule wird auch als "Shorei-Ryu" bezeichnet. Der Stil betont die Atmung und ist besonders durch langsame und kräftige Bewegungen gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu zeichnet sich "Shorin-Ryu" (Shuri-Te und Tomari-Te) vor allem durch schnelle und starke Bewegungen aus. Meister des Shuri-Te war Sokon Matsumura, auch "Bushi" genannt, ein Ehrentitel des Königs von Okinawa. "Bushi" bedeutet Krieger und war die höchste Auszeichnung, die einem Nichtadligen zuteil werden konnte. In Naha, dem Hauptort von Okinawa, entwickelte sich also das chinesische Süd-Te und in Shuri das Nord-Te, weil in Naha die mit dem Handel beschäftigten und umgesiedelten Südchinesen lebten, während Shuri die Kontaktpersonen der Staatsdiener der Kaiserregierung, Botschafter und höhere Krieger aus Peking ansässig waren.

Matsumura Sokon (1809-1898), der diese Kampfkünste auch im Ursprungsland China studiert hatte, unterrichtete vor allem ltosu Yasutsune (1832-1918), aber auch Asato Yasutune und Mabuni Kenwa. Itosu stellte kurz nach der Jahrhundertwende ein modernes Karate unter dem Gesichtspunkt der Leibeserziehung (und erstmals nicht der tödlichen, oft geheim und unsystematisch geübten Kampfkünste) zusammen. Er entwickelte zu diesem Zweck auch die Pinan- (später Heian-) Katas.

Yasutsune ltosu und Anko, die beiden Hauptlehrer von Gichin Funakoshi, lernten unter Matsumura. Meister Funakoshi wurde 1868 geboren. In diesem Jahr wurden grundsätzliche Änderungen in Japan eingeführt, wie die Abschaffung des Feudalismus und der Samurai-Herrschaft. Außerdem wurde das Verbot, sich in den Kampfkünsten zu üben, aufgehoben. Trotz allem fand das Training von Meister Funakoshi bei seinen Lehrern immer noch im Geheimen statt. Azato, der engsten Schüler Matsumuras, lehrte Funakoshi die Geheimnisse des Shuri-Te und die Kata Kushanko. Von Itosu lernte Funakoshi die Techniken des Tomari-Te. Die von Itosu 1905 entwickelten Pinan- bzw. Heian-Katas lernte Funakoshi erst später von Mabuni Kenwa.

Goju-Ryu Shito-Ryu Shotokan-Ryu Wado-Ryu

Während seiner Zeit als Schullehrer in Naha hatte Sensei Funakoshi auch Gelegenheit mit Meister Higashionna zu trainieren, sowie mit Meister Nigaki das Tomari-Te und mit Meister Kiyunna, einem Schüler von Matsumura. Es ist verständlich, dass Sensei Funakoshi sich gegen eine Einteilung von Karate in Stilrichtungen verwehrte. Nach seiner Meinung gab es nur ein Karate auf Okinawa.

Erst ab 1904 wurde Tode offiziell in Schulen und Universitäten Okinawas gelehrt. Im Alter von 53 Jahren wurde Funakoshi ausgewählt, vor dem späteren Kaiser Japans, Hirohito, die erste öffentliche Vorführung des Karate zu geben, die es je gab. Ein Jahr später, im Jahr 1922, wurde Karate als Kampfkunst während eines großen Sportfestes unter riesigem Beifall vorgestellt. Funakoshi interpretierte "Tode" japanisch mit dem Wort Karate (leere Hand). In Japan waren bis dato nur die Kampfkünste der Samurai wie Iaido (der Weg des Schwertes) und Jujitsu (sanfte Technik), der daraus hervorgegangene "Volkssport" Judo (der sanfte Weg) bekannt. Da Karate nicht nur als Kampfeskunst verstanden wird, sondern auch als Geistesschule, wurde der Name auf Karate-Do (Do = der geistige Weg) erweitert.

Eigentlich wollte Funakoshi Sensei sofort nach dieser Demonstration nach Okinawa zurückkehren. Er blieb aber in Japan auf Anraten Jigoro Kanos hin, dem Begründer des modernen Judo, um die Kunst des Karate dort weiter zu verbreiten. Nach einigen Jahren hatte er eine Gruppe von Schülern, denen er das Karate lehrte. 1936 entstand dann das erste eigens für Karate gebaute Dojo. Über dem Eingang des Dojos brachten Funakoshis Schüler eine Tafel mit der Inschrift SHOTOKAN an, was bedeutet: "Halle des Shoto". "Shoto" war Funakoshis Künstlername, unter dem er Gedichte und Kalligrafien verfasste und kann übersetzt werden mit "Sho" (Pinie, Kiefer) und "to" (Welle, Woge). Im allgemeinen wird dies als "Rauschen in den Kiefernwipfel" bzw. "Rauschen der Pinien" übersetzt. Allerdings kann man auch hineindeuten, daß eine Tsunamiwelle ein sehr großes Zerstörungspotential besitzt und eine Pinie ein sehr starkes Wurzelgeflecht. Nach Sensei Kase steht Shoto für die Bewunderung seiner Schüler, wie Funakoshi sein Karate-Do interpretiert: Die alles zerstörende Kraft aus einem guten Stand heraus.

Sho - Kiefer, Pinie
To - Welle, Woge
Kan - Gebäude, Halle

Gichin Funakoshi war eng mit zwei weiteren Karatemeistern verbunden; Kenwa Mabuni und Chojun Miyagi. Mabuni nannte seinen Karatestil Shito-Ryu ("Schule nach Higashionna und Itosu" - seinen beiden Lehrern), Miyagi nannte seinen Stil Goju-Ryu (Go = "hart", ju = "weich"). Hironori Otsuka, ein Schüler Gichin Funakoshis und selbst Großmeister des Jujitsu, gründete nach Jahren des Trainings bei Funakoshi seine eigene Karate-Schule, und nannte seinen Stil Wado-Ryu (Wa = "Frieden", Do = "der Weg" und Ryu = "Schule").

Die tiefen Stellungen des Shotokan, wie sie heutzutage geübt werden, gehen auf Funakoshis dritten Sohn Yoshitaka zurück. Er wurde von seinen Schülern liebevoll "Waka-Sensei" (junger Lehrer) genannt und wegen seinen eigenen Vorstellungen gab es auch öfters Meinungsverschiedenheiten mit seinem Vater. Yoshitaka ist heute leider so gut wie nicht mehr bekannt. Er zählte in den vierziger Jahren zu besten Karatemeistern. Er starb 1945.

Im letzten Jahr des zweiten Weltkrieges wurde durch einen Luftangriff der Amerikaner Funakoshis Dojo völlig zerstört. Danach wurde auf Grund von Funakoshis hohem Alter von 80 Jahren das Training an den Universitäten von den älteren Sempais Funakoshis durchgeführt. Dazu zählten unter anderen Genshin Hironishi, Isao Obata und Shigeru Egami. Trotz des Drängens von vielen Universitätsstudenten, Karate auch in Zweikämpfen zu trainieren, lehnte Funakoshi dies ab.

Anfang der vierziger Jahre wurde unter Leitung von Yoshitaka das Gohon-Kumite und später das Sanbon- und Ippon-Kumite eingeführt. Masatoshi Nakayama war einer der Studenten, die auf die Einführung von Kumite-Formen drängten. Sensei Nakayama war Schüler im Karate-Dojo von Funakoshi gewesen. Danach ging er nach China, um die 13 Formen des chinesischen Kempo zu erlernen. Nach Kriegsende wurde er von Miyata Minoru mit dem Shotokan vertraut gemacht.

Zusammen mit Hidetaka Nishiyama und Masatomu Takagi gründete Nakayama 1949 die Japan Karate Association (JKA). Sensei Funakoshi hat niemals für die JKA gearbeitet, obwohl er Ehrenausbilder an der JKA war. Nakayama Sensei führte in diesem Verband erstmals einen Intruktorenkurs mit vielversprechenden jungen Karateka durch. Die ersten Mitglieder waren die heutigen Großmeister wie Enoeda, Kanazawa und Tsuyama. Diese machten das Shotokan-Karate weltweit bekannt. Die Schüler von Sensei Funakoshi gründeten 12 Jahre zuvor schon einen eigenen Karateverband, den Nihon Karate-Do Shotokai, "Die Vereinigung der Funakoshi-Schüler".

Dieser Verband trat jedoch niemals über die Grenzen Japans hinaus, obwohl sich später noch viele große Karatemeister dieser Verbindung anschlossen bzw. unterstützten.

Der JKA gebührt jedoch der Verdienst, Karate in der ganzen Welt verbreitet zu haben. Dazu schickte sie ihre Absolventen des ersten Intruktorenkurses in die Welt, um dort jeweils Landesverbände zu gründen. Da jedoch einige der Instruktoren damit begannen, eigene Verbände zu gründen, begann die JKA zu bröckeln. Nishiyama beispielsweise ging nach Amerika und Kanazawa gründete zusammen mit Miura, Nagei, Kawasoe, Asano und Koga den Verein Shotokan-Karate-International (SKI).

Goju-Ryu Shito-Ryu Shotokan-Ryu Wado-Ryu Kyokushinkai Shito-Ryu Shito-Ryu Shukokai Itosukai Hayashi Shito-Ryu Shorin-Ryu Shorin-Ryu (Sukunai Hayashi-Ryu) Matsubayashi-Ryu Shorin-Ryu (Kobayashi-Ryu) Uechi-Ryu

Die heute weltweit am häufigsten betriebenen Stile sind neben Shotokan-Ryu und Shito-Ryu auch Wado-Ryu, Goju-Ryu und Kyokushinkai, wobei jeder Stil seine Vorzüge und Eigenheiten hat. Zusätzliche existieren auf Okinawa und in Japan noch einige andere, die außerhalb jedoch kaum bekannt sind (z.B.: Pangai-Noon, Gembukai, Ryuei-Ryu). In Japan selbst hat Karate nicht die Anerkennung wie andere Budo-Arten gefunden, die aus den Kampfkünsten der Samurai entstanden sind. Es wird häufig als "von Bauern stammend" abgelehnt.

Um 1947 kam Karate-Do das erste mal nach Europa. Henry Plée, heute 9. Dan und Ehrenpräsident der FFKAMA (=Féderation Française de Karaté et Arts Martiaux Affinitaires) gründete in Paris, das heute noch existierende erste Karate-Dojo in Europa.



© by Stephan Pilz